Punkt-Umkreis-Denken in der Diagnostik
Wir alle, Ärzt*innen, Therapeut*innen und Erwachsene, die Kinder in ihrer Entwicklung begleiten, sind aufgerufen, jedem Kind in stiller absichtsloser Zugewandtheit von Mensch zu Mensch zu begegnen. Selbstverständlich sind wir als Ärzte und Therapeuten auch in unserer helfenden Fachexpertise gefragt. Bevor diese jedoch wirksam werden kann, brauchen wir die lebendige Anschauung der Stellung eines Kindes innerhalb seiner gesamten Weltumgebung.
Nur wenn bei jedem einzelnen Kind wirkliche, aus warmem liebevollem Interesse heraus geborene Einzelfallerkenntnis und keine Subsummierung von Diagnosekriterien gelingt, kann der Prozess der Diagnosefindung und der therapeutischen Begleitung wirklich heilsam sein.
Wir benötigen im ersten Schritt zu einer Punkt-Umkreis-Diagnose eine neue Form der medizinischen Diagnostik, die das Kind strikt vor einer diagnostischen Punktstigmatisierung bewahrt, auch und gerade dann, wenn es der deutlichste Symptomträger ist. Die Punkt-Umkreis-Diagnose soll den Zustand des ganzen kindlichen Schicksalsgefüges charakterisieren. Dabei soll sich die Diagnostik primär jedweder Beurteilung in erwünschte oder unerwünschte Konstellationen enthalten. So kann eine Diagnose entstehen, die quasi in erster Linie eine soziale wesenserkennende „Feld“-Diagnose ist und das Kind mit seiner individuellen Biografie und seiner Schicksalsumgebung umfassend beschreibt. Zu dieser Schicksalsumgebung gehören die Eltern, Geschwister, Verwandte, nahestehende Freunde des Kindes und der Familie sowie Erzieherinnen und Lehrer. Ebenso gehören die Dimensionen von Zeit und Raum, wie beispielsweise der Wohnort, der Jahreslauf, die jeweilige Kultur oder die Zeitepoche der Menschheitsentwicklung mit den sie spiegelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Verhaltensnormen in den betrachtenden medizinisch-pädagogischen Blick.
Dieser Blick soll nicht auf Diagnose im herkömmlichen Sinne zielen, sondern auf erweiterte „Felderkenntnis“. Jede Form von diagnostisch-therapeutischen Überlegungen muss sich davon lösen, in diesem Feld monokausale Ursachenforschung zu betreiben, sondern sich direkt an die salutogenetische Potenz der sozialen Gemeinschaft wenden und von dort aus den individuellen Heilbedarf für das Kind und sein ganzes Umfeld ermitteln.
Wir werden dabei von den folgenden Fragen geleitet:
Was braucht genau dieses Kind jetzt, mit dieser Konstitution, diesen aktuellen oder auch langwährenden Schwierigkeiten, in dieser biografischen Lebenssituation? Welche Hilfen benötigt das Umfeld? Welche Unterstützungen, welche Medikamente oder Therapien sind notwendig? Darüber hinaus entsteht durch jedes Kind in Not die Frage, wo unsere gesamtgesellschaftliche Entwicklung eigentlich gerade steht.
Es geht um das Schauen des ganzen Werdegangs eines Menschen im Kosmos.
Vorsichtig und tastend sind wir auch Suchende, Fragende, Lauschende zu den Umkreis-Fragen der Vorgeburtlichkeit und aus tiefer Überzeugung sehen wir in einem Kind mehr als das, was es durch Vererbung und Umwelt geworden ist – unbedingt!